Tantôt je pense et tantôt je suis -   
Manchmal denke ich und manchmal bin ich
Paul Valéry


SEIN und DASEIN

Vorbemerkung

Philosophie, Religion und Kunst stellen in ihren Gestaltungen eine Beziehung von Sein und Dasein dar. Zum Begriff des Seins, das prinzipiell unaussprechbar ist, um welches das Denken aber immer wieder kreist, gehören Synonyme wie Wesen, Essenz; reines  Denken, Bewußtsein, Geist, Nous, Logos, Vernunft; Idee, summum bonum (höchstes Gut), Utopie. Solche Abstrakta können durch die Begriffe Schönheit, Gutheit, Wahrheit ergänzt werden. Dem Denken des Seins wohnt eine zwingende Folge inne. Reines Sein wäre statisch und käme zu keinem Seienden oder Dasein. Daher muß das Sein, sofern es denn gedacht werden kann, zum Seienden streben. Würde es das nicht tun, so bliebe das Sein ohne das Seiende, d.h. das Sein wäre ein Nichts.
                                                                                                                   
Wenn man das Sein oder Gott als in-sich-ruhend betrachtet, so können sie sich nicht zum Seienden oder Dasein entäußern. Von der Wirklichkeit her gesehen, haftet ihnen mithin Dynamis an, welche die Welt des Seienden und der Geistesformen schafft. Was schafft oder sich schafft, hat Dynamis, die als Geist (Hegel), Liebe (Empedokles) oder Libido (Freud) wirkt. Das ins Leben gerufene Dasein ist durch den Brutpflegetrieb, Empathie, Mitleid, Analogie, Postulate, Imperative, Nützlichkeitserwägungen und Rechtssysteme geschützt. Alle diese aufgeführten Begriffe haben ihre Gültigkeit in ihnen zugeordneten Gebieten (Bloch, Gebietskategorien). Wir bereiten uns auf Richtungsakte erkennender Art vor, die uns beim Verwirklichen vorangehen und uns leiten. Verbunden sind sie nach Ernst Bloch mit einer begriffenen Hoffnung, der docta spes, die uns motiviert. Die Frage der Motivation ethischer Handlungen stellt einen eigenen Themenkreis dar.

weitere Inhalte:
 die vorsokratischen Philosophen / die klassische Periode /  Paulus u. Augustinus / Ethische Motivation / der Brutpflegetrieb / das Mitgefühl /  das Mitleid  / die Analogie / das Postulat / der Imperativ

1. VON DEN GRÜNDEN

a) Die vorsokratischen Philosophen
 
Wasser, Quelle des Lebens
In der Geschichte der Menschen, der Gesellschaften und Völker enhüllt sich fortwährend der Ideen- und Motivstoff geistiger Anliegen. Seine zentrale Frage ist die nach dem Urgrund (griech. Arche), dem die Vielheit der Dinge ihr Entstehen verdankt. Die ionischen Naturphilosophen waren die ersten, die von dem Gedanken nach diesem Urgrund oder dem Einen getragen sind. Zu ihnen gehören Thales von Milet, Anaximander und Anaximenes. Thales (624–546 v.Chr.) lehrt, daß alles aus dem Wasser hervorgegangen ist, welches er als selbstbewegt und selbstbelebt betrachtet.
Sein Schüler Anaximander (611 – 546 v.Chr.) hält das Apeiron, den ungeformten Weltstoff, der von keiner Erfahrung des Menschen begleitet ist, für den Urgrund. In gegensätzlicher Bewegung erzeugt er und fordert zurück, wie es in dem einzigen überlieferten Fragment 

heißt: „Woraus aber die Dinge ihre Entstehung haben, darin finde auch ihr Untergang statt, gemäß der Schuldigkeit. Denn sie leisteten Sühne für ihre Ungerechtigkeit, gemäß der Verordnung der Zeit.“ 
Für Anaximenes (585 – 525 v.Chr.), Enkelschüler von Thales, ist das Eine die Luft, da die Seele luftartig sein müsse. Wie der Atem den Menschen erfüllt und beseelt, so ist die Luft das belebende Prinzip der Welt. Durch Verdünnung entsteht Feuer und durch Verdichtung ergeben sich Wind, Wolken, Wasser, Erde und Steine.
Bei Heraklit (544 – 483 v.Chr.) findet die Denkbewegung vom Seienden zum Sein, vom Konkreten zum Grund, der nun nicht mehr das Materielle ist, ihre Fortsetzung. Die Betrachtung der Natur, der Blick zu den Sternen, Bergen, auf Flüsse und das ruhelose Meer offenbaren einen anderen Grund, den der ewigen Wahrheiten: Panta rhei – alles fließt; der Streit ist der Vater von allem. In der Flucht der Dinge sucht er nach dem Einen, das sich ihm als „Logos“ oder Weltvernunft erschließt. Im Gegensätzlichen die Harmonie zu erkennen, erfordert Tiefsinn und führt über die tragische Erfahrung zur Heiterkeit der Seele.

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Die Lehre von Pythagoras (570 – 500 v. Chr.) kreist um die Bedeutung der Zahl, welche dem Unbestimmten Grenzen gibt und so die Ordnung des Kosmos schafft. In Intervallen (Abständen) bewegen sich die Gestirne kreisförmig um ein Zentrum. Diese Vorstellung hat auch die Musiktheorie in dem Gedanken der Sphärenharmonie beeinflußt. Den Pythagoreern ist die Auffassung eigen, daß im Weltgeschehen eine magische Sympathie wirkt, die eine universale Verwandtschaft aller Lebewesen nach sich zieht. Pythagoras gründete eine Schule, deren Mitglieder in Gemeinschaft lebten und dem Vegetarismus verpflichtet waren.
Die sichtbare Welt, so verkündet Empedokles (492 – 432 v.Chr.), besteht aus Wasser, Erde, Feuer und Luft, die durch Liebe und Streit oder Haß bewegt werden. Sie fügen sich zusammen oder trennen sich gemäß der Dominanz von Liebe und Haß. Zwischen ihnen liegt ein ewiger Streit, der sich dem Gesetz der Ananke, des Schicksals, unterwirft. Empedokles nimmt hier die pythagoreische Vorstellung der magischen Sympathie auf, die er noch eindrücklicher als Pythagoras allen Lebewesen zuspricht. Da es nur einen Lebenshauch gibt (Pneuma), der die ganze Welt wie eine Seele durchdringt, gilt für den Menschen, das Leben zu bewahren und Tiere nicht zu Nahrungszwecken zu töten.
Auch Leukipp (um 460 v.Chr.) und Demokrit (460 – 371 v.Chr.) sind in ihrem Denken vom Schema des Seins und des Seienden bestimmt. Sie gelten als die Begründer des Atomismus. Kleinste unteilbare Materiepartikel, die Atome, sind die Grundlage des Seienden und lassen durch Verbindung und Trennung Dinge und Welten entstehen und vergehen.
Ihnen voraus geht Anaxagores (500 – 425 v.Chr.), für den es qualitativ verschiedene Grundstoffe gibt, die vom Nous (Geist) planmäßig ordnend zusammengefügt werden.
Zu den bedeutendsten vorsokratischen Philosophen gehört neben Heraklit auch Parmenides (540 – 470 v.Chr.) Auf dem Weg des Denkens strebt er, ein Verständnis vom Wesen des Seienden zu erlangen. Zunächst legt er fest, daß „Nichts nicht ist“, d.h. etwas ist da und sein Gegenteil „etwas ist nicht da“ sind ein Widerspruch. Dem Verb „sein“ gibt er einen metaphysischen Rang und verbindet es mit dem Denken. Dieses Sein ist ein homogenes Kontinuum, es ist vollkommen, kennt keine zeitlichen Grenzen, seine Eigenschaft ist immateriell und nicht mit den Sinnen begreifbar. Während Heraklit sagt, daß alles ein Gegenteil hat und die Statik eine Täuschung ist, behauptet Parmenides die Unbewegtheit des Seins und die Entsprechung von Sein und Denken. Von Parmenides gehen zwei Richtungen aus: zu Empedokles und den Atomisten und über Sokrates zu Platons Philosophie.  
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b) Die klassische Periode
Auch Sokrates (469 – 399 v.Chr.) gibt verschiedene Anstöße des Denkens. Seine Frage, wie die Eudämonie zu erlangen ist, beantworten die Kyrenaiker mit der Hinwendung zu einem genußvollen Leben (hedone) und die Kyniker mit dem existentiellen Schritt zur Bedürfnislosigkeit. Sokrates wendet sich von der Naturphilosophie ab und beginnt, eine anthropologische Ethik zu umreißen. Von dem Satz „Ich weiß, daß ich nichts weiß“ ausgehend, bemüht er sich um das Wissen des richtigen Handelns und um das eigentliche Wissen hinter der Fassade der Gewohnheit. Sein bedeutendster Schüler ist Platon (427 – 347 v.Chr.).
Zuerst Dichter, dann durch die sokratische Argumentation (Maieutik, Elenktik) zum Philosophieren gebracht, reift in Platon die Vorstellung, daß die Wahrnehmung nichts Dauerndes erkennt. Nur die Begriffe geben wirkliches Wissen und Gewißheit. Der Begriff wiederum bezieht sich, soll er denn zur Wahrheit gehören, auf die Idee, welches ein übersinnliches Objekt ist. Unsere Begriffe (Baum, Tisch, Stuhl) sind Abbilder einer transzendenten Welt, Abbilder der Ideen. An ihrer Spitze steht die „Schöngutheit“, die Kalokagathie, die ein sozial-ethischer Begriff darstellt und der Gemeinschaft, der Polis Richtschnur sein soll. In Analogie zu ihnen sind Seiendes und Dasein. Für Platon gibt es zwei existentielle Bewegungen. Vermittels des Eros strebt der nach Glückseligkeit Verlangende zu den Ideen, die ihn nun als Ideale bei der Verwirklichung des gemeinschaftlichen Lebens leiten sollen. Die umgreifende Erfassung des gesamten Lebens in diesem Sinne führt mittels Philosophie zu Tugenden (Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit) und Ständen (Bauer, Handwerker, Krieger, Beamte, Herrscher). Staat und Mensch entsprechen sich und sind gemäß der Idee des Guten zu formen.
Um die Philosophie von Aristoteles (384 – 322 v.Chr.) umrißhaft darzustellen, benutze ich auch das Buch „Vom Leben des Geistes“ von Hannah Arendt. Er gilt als Deuter des Vorhandenen. Es geht dabei um das Problem, wie das Sein sich zum Seienden und zum Dasein hinbewegt und welche Mittel uns, sofern wir in die Gestaltung hineingezogen, dafür an die Hand gegeben werden. Aristoteles ist langjähriger Schüler von Platon. Dennoch löst er sich von seinem Mentor und beschreitet eigene Wege, die aufzuzeigen, einen größeren Raum benötigte, der hier nicht zur Verfügung steht. Für Aristoteles müssen für das Werden, das nicht zu leugnen ist, die Grundprinzipen, die Materialität, die Formen und die Motivation der Gestaltung vorhanden sein.  Das absolute Prinzip ist ein ewiges und unbewegliches Wesen, welches das Vermögen besitzt, das Äußere seiner selbst, die Welt, zu bewegen. Die Entelechie (Ziel haben) ist dem Werden eigen und führt vom Stoff zur Form. Die Aktualität ist das In-Tätigkeit-Treten einer Anlage, die dem Stoff innewohnt und durch „Stammbegriffe“, die Kategorien (Substanz, Qualität, Quantität etc.), begrifflich faßbar ist. Damit etwas ins Leben treten kann, bedarf es der Kausalität und eines Zieles oder Zweckes. Der Begriff Teleologie bezeichnet eine Lehre, die sich mit diesen Vorgängen befaßt. Der Stoff ist Potentialität, den die Aktualität oder Energie zur Form bringt, wie wenn aus einem Stein eine Skulptur geschlagen würde. Was bisher nicht erwähnt worden ist, ist die Motivation der Gestaltung. Es geht um den Willen. Die Vernunft setzt nichts in Bewegung. Man muß wählen. Das Wahlvermögen (griech. proairesis) ermöglicht die Wahl als Anfangspunkt der Handlungen. Doch das Wahlvermögen ist noch kein Wille, der nach Hannah Arendt erstmalig beim Apostel Paulus thematisiert und problematisiert wird.
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c) Paulus und Augustinus
Im Römerbrief des Apostels Paulus, geschrieben zwischen 54 und 58 n.Chr., heißt es: „Denn was ich jeweils tue, verstehe ich selbst nicht. Es ist mir ein Rätsel. Denn ich tue ja nicht, was ich eigentlich will, sondern gerade, was mir zuwider ist“ (Übertragung: Jörg Zink, Rö.7,15). Für Hannah Arendt ist dies ein Schlüsseltext, der die Problematik des Willens in der Struktur von Sein, Seiendem und Dasein aufzeigt und die Entdeckung des inneren Menschen aufweist. Der Wille hat das Vermögen, in die Gestaltung des Seienden und des Daseins einzugreifen. Alle ethischen Anliegen, die von einer schlechten Wirklichkeit motiviert werden, benötigen die Energie des Willens, um den Mangel als Noch-Nicht (Ernst Bloch) in eine Gestaltung überzuführen. Der Philosoph Wittgenstein sagt daher mit Recht: „Wäre der Wille nicht, so gäbe es auch nicht ... den Träger der Ethik“ ( zitiert nach H. Arendt, Vom Leben des Geistes, p. 264). Allein oft steht dem Willen ein Gegenwille gegenüber. In den aktuellen Situationen, in denen Hilfe erforderlich wird, sind weder Vernunft noch Wille allein imstande, sie zu gewähren, denn sowohl das Gute als auch das Böse hat den Willen hinter sich. Was muß hinzukommen, um den „Träger der Ethik“ in Bewegung zu setzen? Der Gehorsam zur ethischen Norm wäre eine Antwort. Genügt es zu sagen, du sollst wollen? Für Jesus erwächst aus der Liebe zum Nächsten und dem Feind die Motivation des Tuns. Auch Paulus verweist auf die Liebe (Agape), sie ist der höchste Wert. Ebenso betont Augustinus sie. Doch er reflektiert Wille und Liebe stärker. Wille und Energie gehören zusammen, um tätig werden zu können. Eine weitere Antwort besteht im Begriff des „guten Willens“ (bonae voluntatis). Der Mensch, der gut handelt, hat einen guten Willen (I. Kant: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“). Doch warum wählt man das Gute? Es ist nach Augustinus die Liebe: „Meine Schwere ist die Liebe, sie führt mich ...“ (zitiert nach H. Arendt, p. 329). Der Wille wird in Liebe verwandelt, der Wille ist eine Liebe. Es kommt nicht darauf an zu wissen, was gerecht ist, sondern darauf an, die Gerechtigkeit zu lieben.    
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2. ETHISCHE MOTIVATION

Gebote, Postulate und Imperative lassen die Frage offen, von welcher Motivationsbasis aus sie erstellt worden sind. Was veranlaßte ihre Verfasser, sie den Menschen vorzugeben? Zu meinen, daß aus den Normen selbst die Energie erwachse, sie zu fixieren, bedeutet, einem Zirkelschluß zu erliegen. Wenn I. Kant sich um die Formulierung eines ethischen Textes bemühte, muß davon ausgegangen werden, daß ihn eine vorgängige Motivation geleitet hatte. Es stellt sich also die Frage, von welcher Art die ethischen Impulse sind, als deren Ziel sich die Normen ergeben. Es ist dabei zwischen heteronomer und autonomer Bestimmung zu unterscheiden. Heteronom bedeutet, daß das Gebot, die Norm von einem transzendenten oder politischen Gesetzgeber dem Menschen gegeben worden sind. Autonome Bestimmungen sind einerseits frei von Transzendenz und können andererseits dennoch vom politischen Gesetzgeber oder anderen Autoritäten vorgegeben sein; sie sind also bei Beachtung der Immanenz ebenso heteronom. Dieser Problematik, zentriert um Motivation, widmet sich in aller Kürze der nachfolgende Text. Der Leitfaden dazu sind die Begriffe: Brutpflegetrieb, Mitgefühl, Mitleid, Ana- logie, Postulat und Imperativ.   
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a) Der Brutpflegetrieb
Als ethische Äußerung auf der Grundlage der Natur kann der Brutpflegetrieb angesehen werden, der sich in Aufzucht, Pflege und Beschützung der Nachkommenschaft zeigt.  Es ist z.B. auf das fürsorgende Verhalten der Hühnerarten und die Verteidigungsbereitschaft von Enten und männlichen Schwänen hinzuweisen, die bis zur Selbstaufopferung gehen kann. Freilebende Katzen suchen für ihre Jungen ein anderes Versteck, wenn es einsichtig geworden ist. Hier spricht man von „moralanalogem Verhalten“ (K.Lorenz). Auch der Mensch ist diesem Instinkt verpflichtet.
Im Mutter-Kind-Verhältnis scheint das moralische Gefühl als apriorische Intuition aufzutreten (siehe auch Jean Liedloff, Begriff "Kontinuum"). Nach Hutcheson ist es ein unmittelbarer moralischer Sinn oder ein ursprünglicher Instinkt, der zu ethischen Handlungen führt. Die „Gefühlsmoral richtet sich nach stammesgeschichtlichen Vorgaben“ (I.Eibl-Eibesfeldt).
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b) Das Mitgefühl
Synonym mit Mitgefühl sind Einfühlung, Empathie auch Verstehen. Mitgefühl wird im alltäglichen Lebenszusammenhang geübt und ist von einer emotionellen Stellungnahme begleitet. Mittels des Mitgefühls verstehen wir Mensch und Tier, wir können uns in Freude und Leid der Lebewesen einfühlen. Auf dieser Basis kann sich ein hilfreiches Handeln entwickeln (siehe „Agape und Metta“ auf dieser Website). Hat das Mitgefühl das Leid eines anderen Lebewesens erfaßt, entsteht eine Gefühlsdissonanz, die signalisiert, daß ein anderes Leben leidet. Die Intersubjektivität sucht die Gefühlsdissonanz abzubauen. Das Subjekt leitet ein Handeln ein, sofern kein Verdrängungsvorgang obsiegt.  
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c) Das Mitleid      
Während sich das Mitgefühl mit Freude und Leid identifiziert, wird das Mitleid nur vom Leid affiziert. Es hängt aber auch mit Nächstenliebe und Wohlwollen zusammen, das, wenn es aus dem Bedauern über ein Leid entsteht, Mitleid genannt wird. Das Mitleid ruft ebenso eine quälende Gefühlsdissonanz hervor, welche zu harmonisieren man sich bemüht oder verdrängt. Der bedeutendste Mitleidsphilosoph ist Schopenhauer. Nach ihm gehen aus dem Mitleid auch Gerechtigkeit und Menschenliebe (siehe oben) hervor, die er Kardinaltugenden nennt. Das grenzenlose „Mitleid mit allen lebenden Wesen ist der festeste und sicherste Bürge für das sittliche Wohlverhalten...“ (A.Schopenhauer). Er argumentiert wider die Rechtlosigkeit der Tiere und verurteilt Grausamkeiten an ihnen in Kenntnis des buddhistischen Verhaltens gegen sie (siehe „Agape und Metta“). Wir müssen dennoch nachfragen, wie es zur ethischen Handlung an Mensch und Tier kommt. Wie entsteht der Prozeß der Übertragung? Diesem Gedanken wollen wir uns im nächsten Absatz widmen.   
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d) Die Analogie
Wenn man Lebewesen miteinander vergleicht, so benötigt man einen Vergleichspunkt (tertium comparationis). Zwei Menschen können im Vergleichspunkt gleich und in anderen unterschiedlich sein. Auch zwei Tiere können gleichartige Erscheinungsmerkmale haben. Das Urteil über Gleichheit oder Ungleichheit heißt Analogieschluß. Ist ein Vergleich letztlich nicht evident, dann heißt der Vergleich Trugschluß. Für unser Anliegen geht es um den Vergleich Mensch und Tier, und wir fragen, wenn uns Empathie und Mitleid sagen, daß das Tier leidet, ob dieses Urteil richtig ist. Wir können durch Einfühlung Schmerz, Leiden und Wohlbefinden hören - durch Schmerzbekundungen des Tieres - oder erahnen. Unsere Handlungsmotivation führt zur willentlichen Handlung, die durch einen Denkakt mittels der Analogie erfährt, daß das Tier leidet. Das eigentliche Motivationspotential besteht indessen im Brutpflegetrieb, Mitgefühl und Mitleid. Der Analogieschluß führt zu einem bewußten Mitleiden mit dem Tier. Die Folge ist eine Gefühlsdissonanz (Theorie der kognitiven Dissonanz, L. Festinger), die nach einer Reduktion oder Auflösung sucht, wenn die Schwelle der Dissonanztoleranz überschritten worden ist. Im Miteinander von Einfühlung, Denkbewegung und Willen kommt die helfende und schmerzbeseitigende Handlung zustande, wenn sie nicht durch Verdrängung unterdrückt wird. Sowohl dem guten Willen  als auch dem schlechten Willen kann ein Gegenwillen gegenübertreten. Der gute Wille tut dann nichts Gutes und der schlechte Wille nichts Schlechtes, weil beide blockiert werden können. Wir gehen nun zum Postulat über.  
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e) Das Postulat
Stellt man eine Forderung auf, so kann sie Postulat genannt werden. Postulare heißt fordern. R. Lay formuliert z.B. eine solche Forderung und nennt es „biophiles Postulat“ (siehe „Agape und Metta“). In der Ethik ist ein solches Postulat appelativ, d.h. man appeliert an jemanden, das Postulat zu beachten. Es wird aus praktischen Erwägungen gesetzt und glaubhaft gemacht. Bei I. Kant heißt es: „Postulat ist ein a priori gegebener, keiner Erklärung ... fähiger praktischer Imperativ.“ In der Tierethik könnte ein Postulat folgendermaßen verdeutlicht werden: „Beachte stets die Leidensfähigkeit der Tiere.“ Die Erörterung des Imperativs möge die Reihe der vorgestellten Begriffe beschließen. 
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f) Der Imperativ
Bekannt und berühmt ist Kants kategorischer, unbedingt geltender Imperativ (Gebot, Befehl, Gesetz). Er ist eine allgemeingültige sittliche Vorschrift, das schlechthin höchste Gebot des Sollens. Er lautet: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Zum Imperativ könnte man auch die Goldene Regel hinzufügen. Mit diesen vorgestellten Begriffen ist ein kleiner Ausschnitt aus dem Gebiet der Ethik wiedergegeben. Unser Anliegen war es, daß alle formulierten Normen und Gebote eine Metamotivation für den darstellt, der sie beachtet. Wenn diese Metamotivation nicht durch eigene ursprüngliche und intuitive Motivation im Sinne der Liebe, des Mitgefühls und des Mitleids getragen ist, bedarf sie des Gehorsams, um eine Beachtung zu ermöglichen oder zu erzwingen. Aus diesem Grunde gibt es, bezogen auf die Tierethik, auch die Tierschutzgesetze und den Eintrag des Tierschutzes ins Grundgesetz. Gebote und Gesetze müssen somit als sekundär angesehen werden, die ihre Existenz einer intuitiven Gefühlsmoral und der Notwendigkeit ethischer Handhabbarkeit in der Gemeinschaft und Gesellschaft durch Vernunft, Verstand und Logik verdanken. Auch Gebote der Religionen sind Ausformulierungen auf der Basis intuitiver ethischer Motivation, die auf echte oder vermeintliche gemeinschaftliche und gesellschaftliche Notwendigkeiten antworten.

Wir haben versucht, eine gewisse Grundstruktur von Sein, Seiendem und Dasein aufzuzeigen. Sie stellt eine Basis dar, in der sich Urgrund, Ursache, Prinzip (Arche) versammeln lassen. Die Menschheit hat sich immer wieder bemüht, einerseits von der Wirklichkeit auf Gründe und andererseits von möglichen Gründen oder Prinzipien auf ein bestimmtes Werden zu schließen. Diese anthropologische Konstante könnte man den Archetypus des Grundes nennen. Auch moralische Handlungsweisen sind mithin von einem Grund abhängig. Daß dieser für Mensch und Tier über Jahrtausende hinweg gültig ist, sofern es sich um den Brutpflegetrieb, das Mitgefühl und das Mitleid handelt, sollte aufgezeigt werden. Ich schließe meine Ausführungen ab mit einem Zitat von Peter Singer:
All die Argumente, die die Überlegenheit des Menschen zeigen sollen, können diese eindeutige Tatsache nicht widerlegen: im Leiden sind uns die Tiere gleich.

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