Tantôt je
pense et tantôt je suis -
Manchmal denke ich und manchmal bin ich
Paul Valéry
Vorbemerkung
Philosophie,
Religion und Kunst stellen in ihren Gestaltungen eine Beziehung von
Sein und Dasein dar. Zum Begriff des Seins, das prinzipiell
unaussprechbar ist, um welches das Denken aber immer wieder kreist, gehören Synonyme wie Wesen, Essenz; reines Denken, Bewußtsein,
Geist, Nous, Logos, Vernunft; Idee, summum bonum (höchstes Gut),
Utopie. Solche Abstrakta können durch die Begriffe Schönheit, Gutheit,
Wahrheit ergänzt werden. Dem Denken des Seins wohnt eine zwingende
Folge inne. Reines Sein wäre statisch und käme zu keinem Seienden oder
Dasein. Daher muß das Sein, sofern es denn gedacht werden kann, zum
Seienden streben. Würde es das nicht tun, so bliebe das Sein ohne das
Seiende, d.h. das Sein wäre ein Nichts.
Wenn man das Sein oder Gott als in-sich-ruhend betrachtet, so können
sie sich nicht zum Seienden oder Dasein entäußern. Von der Wirklichkeit
her gesehen, haftet ihnen mithin Dynamis an, welche die Welt des
Seienden und der Geistesformen schafft. Was schafft oder sich schafft,
hat Dynamis, die als Geist (Hegel), Liebe (Empedokles) oder Libido
(Freud) wirkt. Das ins Leben gerufene Dasein ist durch den
Brutpflegetrieb, Empathie, Mitleid, Analogie, Postulate, Imperative,
Nützlichkeitserwägungen und Rechtssysteme geschützt. Alle diese
aufgeführten Begriffe haben ihre Gültigkeit in ihnen zugeordneten
Gebieten (Bloch, Gebietskategorien). Wir bereiten uns auf Richtungsakte
erkennender Art vor, die uns beim Verwirklichen vorangehen und uns
leiten. Verbunden sind sie nach Ernst Bloch mit einer begriffenen
Hoffnung, der docta spes, die uns motiviert. Die Frage der Motivation
ethischer Handlungen stellt einen eigenen Themenkreis dar.
1. VON DEN GRÜNDEN
a) Die vorsokratischen
Philosophen
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In der Geschichte der
Menschen, der Gesellschaften und Völker enhüllt sich fortwährend der
Ideen- und Motivstoff geistiger Anliegen. Seine zentrale Frage ist die
nach dem Urgrund (griech. Arche), dem die Vielheit der Dinge ihr
Entstehen verdankt. Die ionischen Naturphilosophen waren die
ersten, die von dem Gedanken nach diesem Urgrund oder dem Einen
getragen sind. Zu ihnen gehören Thales von Milet, Anaximander und
Anaximenes. Thales (624–546 v.Chr.) lehrt, daß alles aus dem Wasser
hervorgegangen ist, welches er als selbstbewegt und selbstbelebt
betrachtet.
Sein Schüler Anaximander (611 – 546 v.Chr.) hält das Apeiron, den
ungeformten Weltstoff, der von keiner Erfahrung des Menschen begleitet
ist, für den Urgrund. In gegensätzlicher Bewegung
erzeugt er und fordert zurück, wie es in dem einzigen überlieferten
Fragment |
heißt: „Woraus aber die
Dinge ihre Entstehung haben, darin finde auch ihr Untergang statt,
gemäß der Schuldigkeit. Denn
sie leisteten Sühne für ihre Ungerechtigkeit, gemäß der Verordnung
der Zeit.“
Für Anaximenes (585 – 525
v.Chr.), Enkelschüler von Thales, ist das Eine die Luft, da die Seele
luftartig sein müsse. Wie der Atem den Menschen erfüllt und beseelt, so
ist die Luft das belebende Prinzip der Welt. Durch Verdünnung entsteht
Feuer und durch Verdichtung ergeben sich Wind, Wolken, Wasser, Erde und
Steine.
Bei Heraklit (544 – 483 v.Chr.)
findet die Denkbewegung vom Seienden zum Sein, vom Konkreten zum Grund,
der nun nicht mehr das Materielle ist, ihre Fortsetzung. Die
Betrachtung der Natur, der Blick zu den Sternen, Bergen, auf Flüsse und
das ruhelose Meer offenbaren einen anderen Grund, den der ewigen
Wahrheiten: Panta rhei – alles fließt; der Streit ist der Vater von
allem. In der Flucht der Dinge sucht er nach dem Einen, das sich ihm
als „Logos“ oder Weltvernunft erschließt. Im Gegensätzlichen die
Harmonie zu erkennen, erfordert Tiefsinn und führt über die tragische
Erfahrung zur Heiterkeit der Seele.
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Die Lehre von
Pythagoras (570 – 500 v. Chr.) kreist um die Bedeutung der Zahl, welche
dem Unbestimmten Grenzen gibt und so die Ordnung des Kosmos schafft. In
Intervallen (Abständen) bewegen sich die Gestirne kreisförmig um ein
Zentrum. Diese Vorstellung hat auch die Musiktheorie in dem Gedanken
der Sphärenharmonie beeinflußt. Den Pythagoreern ist die Auffassung
eigen, daß im Weltgeschehen eine magische Sympathie wirkt, die eine
universale Verwandtschaft aller Lebewesen nach sich zieht. Pythagoras
gründete eine Schule, deren Mitglieder in Gemeinschaft lebten und dem
Vegetarismus verpflichtet waren.
Die sichtbare Welt, so verkündet Empedokles (492 – 432 v.Chr.), besteht
aus Wasser, Erde, Feuer und Luft, die durch Liebe und Streit oder Haß
bewegt werden. Sie fügen sich zusammen oder trennen sich gemäß der
Dominanz von Liebe und Haß. Zwischen ihnen liegt ein ewiger Streit, der
sich dem Gesetz der Ananke, des Schicksals, unterwirft. Empedokles
nimmt hier die pythagoreische Vorstellung der magischen Sympathie auf,
die er noch eindrücklicher als Pythagoras allen Lebewesen zuspricht. Da
es nur einen Lebenshauch gibt (Pneuma), der die ganze Welt wie eine
Seele durchdringt, gilt für den Menschen, das Leben zu bewahren und
Tiere nicht zu Nahrungszwecken zu töten.
Auch Leukipp (um 460 v.Chr.) und Demokrit (460 – 371 v.Chr.) sind in
ihrem Denken vom Schema des Seins und des Seienden bestimmt. Sie gelten
als die Begründer des Atomismus. Kleinste unteilbare Materiepartikel,
die Atome, sind die Grundlage des Seienden und lassen durch Verbindung
und Trennung Dinge und Welten entstehen und vergehen.
Ihnen voraus geht Anaxagores (500 – 425 v.Chr.), für den es qualitativ
verschiedene Grundstoffe gibt, die vom Nous (Geist) planmäßig ordnend
zusammengefügt werden.
Zu den bedeutendsten vorsokratischen Philosophen gehört neben Heraklit
auch Parmenides (540 – 470 v.Chr.) Auf dem Weg des Denkens strebt er,
ein Verständnis vom Wesen des Seienden zu erlangen. Zunächst legt er
fest, daß „Nichts nicht ist“, d.h. etwas ist da und sein Gegenteil
„etwas ist nicht da“ sind ein Widerspruch. Dem Verb „sein“ gibt er
einen metaphysischen Rang und verbindet es mit dem Denken. Dieses Sein
ist ein homogenes Kontinuum, es ist vollkommen, kennt keine
zeitlichen Grenzen, seine Eigenschaft ist immateriell und nicht mit den
Sinnen begreifbar. Während Heraklit sagt, daß alles ein Gegenteil hat
und die Statik eine Täuschung ist, behauptet Parmenides die
Unbewegtheit des Seins und die Entsprechung von Sein und Denken. Von
Parmenides gehen zwei Richtungen aus: zu Empedokles und den Atomisten
und über Sokrates zu Platons Philosophie.
Übersicht
b) Die klassische
Periode
Auch Sokrates (469 – 399 v.Chr.) gibt verschiedene Anstöße des Denkens.
Seine Frage, wie die Eudämonie zu erlangen ist, beantworten die
Kyrenaiker mit der Hinwendung zu einem genußvollen Leben (hedone) und
die Kyniker mit dem existentiellen Schritt zur Bedürfnislosigkeit.
Sokrates wendet sich von der Naturphilosophie ab und beginnt, eine
anthropologische Ethik zu umreißen. Von dem Satz „Ich weiß, daß ich
nichts weiß“ ausgehend, bemüht er sich um das Wissen des richtigen
Handelns und um das eigentliche Wissen hinter der Fassade der
Gewohnheit. Sein bedeutendster Schüler ist Platon (427 – 347 v.Chr.).
Zuerst Dichter, dann durch die sokratische Argumentation (Maieutik,
Elenktik) zum Philosophieren gebracht, reift in Platon die Vorstellung,
daß die Wahrnehmung nichts Dauerndes erkennt. Nur die Begriffe geben
wirkliches Wissen und Gewißheit. Der Begriff wiederum bezieht sich,
soll er denn zur Wahrheit gehören, auf die Idee, welches ein
übersinnliches Objekt ist. Unsere Begriffe (Baum, Tisch, Stuhl) sind
Abbilder einer transzendenten Welt, Abbilder der Ideen. An ihrer Spitze
steht die „Schöngutheit“, die Kalokagathie, die ein sozial-ethischer
Begriff darstellt und der Gemeinschaft, der Polis Richtschnur sein
soll. In Analogie zu ihnen sind Seiendes und Dasein. Für Platon gibt es
zwei existentielle Bewegungen. Vermittels des Eros strebt der nach
Glückseligkeit Verlangende zu den Ideen, die ihn nun als Ideale bei der
Verwirklichung des gemeinschaftlichen Lebens leiten sollen. Die
umgreifende Erfassung des gesamten Lebens in diesem Sinne führt mittels
Philosophie zu Tugenden (Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit,
Gerechtigkeit) und Ständen (Bauer, Handwerker, Krieger, Beamte,
Herrscher). Staat und Mensch entsprechen sich und sind gemäß der Idee
des Guten zu formen.
Um die Philosophie von Aristoteles (384 – 322 v.Chr.) umrißhaft
darzustellen, benutze ich auch das Buch „Vom Leben des Geistes“ von
Hannah Arendt. Er gilt als Deuter des Vorhandenen. Es geht dabei um das
Problem, wie das Sein sich zum Seienden und zum Dasein hinbewegt und
welche Mittel uns, sofern wir in die Gestaltung hineingezogen, dafür an
die Hand gegeben werden. Aristoteles ist langjähriger Schüler von
Platon. Dennoch löst er sich von seinem Mentor und beschreitet eigene
Wege, die aufzuzeigen, einen größeren Raum benötigte, der hier nicht
zur Verfügung steht. Für Aristoteles müssen für das Werden, das nicht
zu leugnen ist, die Grundprinzipen, die Materialität, die Formen und
die Motivation der Gestaltung vorhanden sein. Das absolute
Prinzip ist ein ewiges und unbewegliches Wesen, welches das Vermögen
besitzt, das Äußere seiner selbst, die Welt, zu bewegen. Die Entelechie
(Ziel haben) ist dem Werden eigen und führt vom Stoff zur Form. Die
Aktualität ist das In-Tätigkeit-Treten einer Anlage, die dem Stoff
innewohnt und durch „Stammbegriffe“, die Kategorien (Substanz,
Qualität, Quantität etc.), begrifflich faßbar ist. Damit etwas ins
Leben treten kann, bedarf es der Kausalität und eines Zieles oder
Zweckes. Der Begriff Teleologie bezeichnet eine Lehre, die sich mit
diesen Vorgängen befaßt. Der Stoff ist Potentialität, den die
Aktualität oder Energie zur Form bringt, wie wenn aus einem Stein eine
Skulptur geschlagen würde. Was bisher nicht erwähnt worden ist, ist die
Motivation der Gestaltung. Es geht um den Willen. Die Vernunft setzt
nichts in Bewegung. Man muß wählen. Das Wahlvermögen (griech.
proairesis) ermöglicht die Wahl als Anfangspunkt der Handlungen. Doch
das Wahlvermögen ist noch kein Wille, der nach Hannah Arendt erstmalig
beim Apostel Paulus thematisiert und problematisiert wird.
Übersicht
c) Paulus und Augustinus
Im
Römerbrief des Apostels Paulus, geschrieben zwischen 54 und 58 n.Chr.,
heißt es: „Denn was ich jeweils tue, verstehe ich selbst nicht. Es ist
mir ein Rätsel. Denn ich tue ja nicht, was ich eigentlich will, sondern
gerade, was mir zuwider ist“ (Übertragung: Jörg Zink, Rö.7,15). Für
Hannah Arendt ist dies ein Schlüsseltext, der die Problematik des
Willens in der Struktur von Sein, Seiendem und Dasein aufzeigt und die
Entdeckung des inneren Menschen aufweist. Der Wille hat das Vermögen,
in die Gestaltung des Seienden und des Daseins einzugreifen. Alle
ethischen Anliegen, die von einer schlechten Wirklichkeit motiviert
werden, benötigen die Energie des Willens, um den Mangel als Noch-Nicht
(Ernst Bloch) in eine Gestaltung überzuführen. Der Philosoph
Wittgenstein sagt daher mit Recht: „Wäre der Wille nicht, so gäbe es
auch nicht ... den Träger der Ethik“ ( zitiert nach H. Arendt, Vom
Leben des Geistes, p. 264). Allein oft steht dem Willen ein Gegenwille
gegenüber. In den aktuellen Situationen, in denen Hilfe erforderlich
wird, sind weder Vernunft noch Wille allein imstande, sie zu gewähren,
denn sowohl das Gute als auch das Böse hat den Willen hinter sich. Was
muß hinzukommen, um den „Träger der Ethik“ in Bewegung zu setzen? Der
Gehorsam zur ethischen Norm wäre eine Antwort. Genügt es zu sagen, du
sollst wollen? Für Jesus erwächst aus der Liebe zum Nächsten und dem
Feind die Motivation des Tuns. Auch Paulus verweist auf die Liebe
(Agape), sie ist der höchste Wert. Ebenso betont Augustinus sie. Doch
er reflektiert Wille und Liebe stärker. Wille und Energie gehören
zusammen, um tätig werden zu können. Eine weitere Antwort besteht im
Begriff des „guten Willens“ (bonae voluntatis). Der Mensch, der gut
handelt, hat einen guten Willen (I. Kant: „Es ist überall nichts in der
Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne
Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter
Wille.“). Doch warum wählt man das Gute? Es ist nach Augustinus die
Liebe: „Meine Schwere ist die Liebe, sie führt mich ...“ (zitiert nach
H. Arendt, p. 329). Der Wille wird in Liebe verwandelt, der Wille ist
eine Liebe. Es kommt nicht darauf an zu wissen, was gerecht ist, sondern darauf an, die Gerechtigkeit zu lieben.
Übersicht
2. ETHISCHE MOTIVATION
Gebote,
Postulate und Imperative lassen die Frage offen, von welcher
Motivationsbasis aus sie erstellt worden sind. Was veranlaßte ihre
Verfasser, sie den Menschen vorzugeben? Zu meinen, daß aus den Normen
selbst die Energie erwachse, sie zu fixieren, bedeutet, einem
Zirkelschluß zu erliegen. Wenn I. Kant sich um die Formulierung eines
ethischen Textes bemühte, muß davon ausgegangen werden, daß ihn eine
vorgängige Motivation geleitet hatte. Es stellt sich also die Frage,
von welcher Art die ethischen Impulse sind, als deren Ziel sich die
Normen ergeben. Es ist dabei zwischen heteronomer und autonomer
Bestimmung zu unterscheiden. Heteronom bedeutet, daß das Gebot, die
Norm von einem transzendenten oder politischen Gesetzgeber dem Menschen
gegeben worden sind. Autonome Bestimmungen sind einerseits frei von
Transzendenz und können andererseits dennoch vom politischen
Gesetzgeber oder anderen Autoritäten vorgegeben sein; sie sind also bei
Beachtung der Immanenz ebenso heteronom. Dieser Problematik, zentriert
um Motivation, widmet sich in aller Kürze der nachfolgende Text. Der
Leitfaden dazu sind die Begriffe: Brutpflegetrieb, Mitgefühl, Mitleid,
Ana- logie, Postulat und Imperativ.
Übersicht
a) Der Brutpflegetrieb
Als ethische Äußerung auf der
Grundlage der Natur kann der Brutpflegetrieb angesehen werden, der
sich in Aufzucht, Pflege und Beschützung der Nachkommenschaft
zeigt. Es ist z.B. auf das fürsorgende Verhalten der Hühnerarten
und die Verteidigungsbereitschaft von Enten und männlichen Schwänen
hinzuweisen, die bis zur Selbstaufopferung gehen kann. Freilebende
Katzen suchen für ihre Jungen ein anderes Versteck, wenn es
einsichtig geworden ist. Hier spricht man von „moralanalogem Verhalten“
(K.Lorenz). Auch der Mensch ist diesem Instinkt verpflichtet. Im Mutter-Kind-Verhältnis scheint das moralische Gefühl als apriorische
Intuition aufzutreten (siehe auch Jean Liedloff, Begriff "Kontinuum"). Nach
Hutcheson ist es ein unmittelbarer moralischer Sinn oder ein
ursprünglicher Instinkt, der zu ethischen Handlungen führt. Die
„Gefühlsmoral richtet sich nach stammesgeschichtlichen Vorgaben“
(I.Eibl-Eibesfeldt).
Übersicht
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b) Das Mitgefühl
Synonym
mit Mitgefühl sind Einfühlung, Empathie auch Verstehen. Mitgefühl wird
im alltäglichen Lebenszusammenhang geübt und ist von einer
emotionellen Stellungnahme begleitet. Mittels des Mitgefühls verstehen wir Mensch und Tier, wir können uns in Freude und Leid der
Lebewesen einfühlen. Auf dieser Basis kann sich ein hilfreiches Handeln
entwickeln (siehe „Agape und
Metta“ auf dieser Website). Hat
das Mitgefühl das Leid eines anderen Lebewesens erfaßt, entsteht eine
Gefühlsdissonanz, die signalisiert, daß ein anderes Leben leidet. Die
Intersubjektivität sucht die Gefühlsdissonanz abzubauen. Das Subjekt
leitet ein Handeln ein, sofern kein Verdrängungsvorgang obsiegt.
Übersicht
c) Das Mitleid
Während
sich das Mitgefühl mit Freude und Leid identifiziert, wird das Mitleid
nur vom Leid affiziert. Es hängt aber auch mit Nächstenliebe und
Wohlwollen zusammen, das, wenn es aus dem Bedauern über ein Leid entsteht, Mitleid genannt wird. Das Mitleid ruft ebenso eine quälende
Gefühlsdissonanz hervor, welche zu harmonisieren man sich bemüht oder
verdrängt. Der bedeutendste Mitleidsphilosoph ist Schopenhauer. Nach
ihm gehen aus dem Mitleid auch Gerechtigkeit und Menschenliebe (siehe
oben) hervor, die er Kardinaltugenden nennt. Das grenzenlose
„Mitleid mit allen lebenden Wesen ist der festeste und sicherste Bürge
für das sittliche Wohlverhalten...“ (A.Schopenhauer). Er argumentiert
wider die Rechtlosigkeit der Tiere und verurteilt Grausamkeiten an
ihnen in Kenntnis des buddhistischen Verhaltens gegen sie (siehe „Agape
und Metta“). Wir müssen dennoch nachfragen, wie es zur ethischen
Handlung an Mensch und Tier kommt. Wie entsteht der Prozeß der
Übertragung? Diesem Gedanken wollen wir uns im nächsten Absatz widmen.
Übersicht
d) Die Analogie
Wenn
man Lebewesen miteinander vergleicht, so benötigt man einen
Vergleichspunkt (tertium comparationis). Zwei Menschen können im
Vergleichspunkt gleich und in anderen unterschiedlich sein. Auch zwei
Tiere können gleichartige Erscheinungsmerkmale haben. Das Urteil über
Gleichheit oder Ungleichheit heißt Analogieschluß. Ist ein Vergleich
letztlich nicht evident, dann heißt der Vergleich Trugschluß. Für unser
Anliegen geht es um den Vergleich Mensch und Tier, und wir fragen, wenn
uns Empathie und Mitleid sagen, daß das Tier leidet, ob dieses Urteil
richtig ist. Wir können durch Einfühlung Schmerz, Leiden und
Wohlbefinden hören - durch Schmerzbekundungen des Tieres - oder
erahnen. Unsere Handlungsmotivation führt zur willentlichen Handlung,
die durch einen Denkakt mittels der Analogie erfährt, daß das Tier
leidet. Das eigentliche Motivationspotential besteht indessen im
Brutpflegetrieb, Mitgefühl und Mitleid. Der Analogieschluß führt zu
einem bewußten Mitleiden mit dem Tier. Die Folge ist eine
Gefühlsdissonanz (Theorie der kognitiven Dissonanz, L. Festinger),
die nach einer Reduktion oder Auflösung sucht, wenn die Schwelle der
Dissonanztoleranz überschritten worden ist. Im Miteinander von
Einfühlung, Denkbewegung und Willen kommt die helfende und
schmerzbeseitigende Handlung zustande, wenn sie nicht durch Verdrängung
unterdrückt wird. Sowohl dem guten Willen als auch dem schlechten
Willen kann ein Gegenwillen gegenübertreten. Der gute Wille tut dann
nichts Gutes und der schlechte Wille nichts Schlechtes, weil beide
blockiert werden können. Wir gehen nun zum Postulat über.
Übersicht
e) Das Postulat
Stellt
man eine Forderung auf, so kann sie Postulat genannt werden. Postulare
heißt fordern. R. Lay formuliert z.B. eine solche Forderung und nennt
es „biophiles Postulat“ (siehe „Agape und
Metta“). In der Ethik ist ein
solches Postulat appelativ, d.h. man appeliert an jemanden, das
Postulat zu beachten. Es wird aus praktischen Erwägungen gesetzt und
glaubhaft gemacht. Bei I. Kant heißt es: „Postulat ist ein a priori
gegebener, keiner Erklärung ... fähiger praktischer Imperativ.“ In der
Tierethik könnte ein Postulat folgendermaßen verdeutlicht werden:
„Beachte stets die Leidensfähigkeit der Tiere.“ Die Erörterung des
Imperativs möge die Reihe der vorgestellten Begriffe beschließen.
Übersicht
f) Der Imperativ
Bekannt und
berühmt ist Kants kategorischer, unbedingt geltender Imperativ (Gebot,
Befehl, Gesetz). Er ist eine allgemeingültige sittliche Vorschrift, das
schlechthin höchste Gebot des Sollens. Er lautet: „Handle so, daß die
Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen
Gesetzgebung gelten könne.“ Zum Imperativ könnte man auch die Goldene
Regel hinzufügen. Mit diesen vorgestellten Begriffen ist ein kleiner
Ausschnitt aus dem Gebiet der Ethik wiedergegeben. Unser Anliegen war
es, daß alle formulierten Normen und Gebote eine Metamotivation für den
darstellt, der sie beachtet. Wenn diese Metamotivation nicht durch
eigene ursprüngliche und intuitive Motivation im Sinne der Liebe, des
Mitgefühls und des Mitleids getragen ist, bedarf sie des Gehorsams, um
eine Beachtung zu ermöglichen oder zu erzwingen. Aus diesem Grunde gibt
es, bezogen auf die Tierethik, auch die Tierschutzgesetze und den
Eintrag des Tierschutzes ins Grundgesetz. Gebote und Gesetze müssen
somit als sekundär angesehen werden, die ihre Existenz einer intuitiven Gefühlsmoral und der Notwendigkeit ethischer Handhabbarkeit in
der Gemeinschaft und Gesellschaft durch Vernunft, Verstand und Logik
verdanken. Auch Gebote der Religionen sind Ausformulierungen auf der
Basis intuitiver ethischer Motivation, die auf echte oder vermeintliche
gemeinschaftliche und gesellschaftliche Notwendigkeiten antworten.
Wir haben versucht, eine gewisse Grundstruktur von Sein, Seiendem und
Dasein aufzuzeigen. Sie stellt eine Basis dar, in der sich Urgrund,
Ursache, Prinzip (Arche) versammeln lassen. Die Menschheit hat
sich immer wieder bemüht, einerseits von der Wirklichkeit auf Gründe
und andererseits von möglichen Gründen oder Prinzipien auf ein
bestimmtes Werden zu schließen. Diese anthropologische Konstante könnte
man den Archetypus des Grundes nennen. Auch moralische Handlungsweisen
sind mithin von einem Grund abhängig. Daß dieser für Mensch und Tier
über Jahrtausende hinweg gültig ist, sofern es sich um den
Brutpflegetrieb, das Mitgefühl und das Mitleid handelt, sollte
aufgezeigt werden. Ich schließe meine Ausführungen ab mit einem Zitat
von Peter Singer:
All die Argumente, die die
Überlegenheit des Menschen zeigen sollen, können diese eindeutige
Tatsache nicht widerlegen: im Leiden sind uns die Tiere gleich.
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10.02.07