Agape und Metta
zwei Erscheinungen des Religiösen




Geschichten folgen uns überall nach. Hat die kindliche Einprägsamkeit sie einmal in der Erinnerung festgehalten, so stehen ihre Worte, Inhalte und Lehren noch Jahrzehnte bereit, als Orientierungspunkte zu dienen. Zu diesen Geschichten gehört auch die des Reisenden, der, als er von Jerusalem nach Jericho wanderte, in der jüdischen Wüste überfallen und beraubt worden ist (Neues Testament, Lukas 10, 30 ff.). Obwohl es in diesem Zusammenhang der Erörterung von Agape und Metta weniger bedeutend erscheint, wer ihm geholfen hat, sei doch darauf hingewiesen, daß es ein Samariter gewesen ist, dessen Volksgruppe in Palästina wenig Ansehen gehabt hat. Sie werden abwertend als Kuthim bezeichnet, also mit dem Namen eines Volkes, das nach Israel eingewandert ist. Ihr heiliger Berg war der Garizim. Mithin ein Angehöriger der Volksgruppe kommt dem Überfallenen zur Hilfe; und während er ihn medizinisch versorgt und ihn zu einem Gasthaus führt, folgt er einem Verhalten, welches das neue Testament Agape" nennt. Es sei der Vollständigkeit halber hinzugefügt, daß bei Lukas die Missionstätigkeit eine große Rolle spielt. Indem er die Samariter der christlichen Liebe für fähig hält, erscheinen sie ihm auch missionswürdig. Daß er ein Beispiel medizinischer Hilfe wählt, wird dann verständlich, wenn man davon ausgeht, daß er Arzt gewesen ist.

Der Begriff
Agape" entstammt dem Griechischen und gehört mit den Begriffen der Philia (Freundschaft), des Eros (Liebe zur Schönheit) und Epithymia (Libido-Leidenschaft) zum umfassenden griechischen Verständnis von Liebe (siehe Paul Tillich, Ontologie der Liebe"). Sie stellen den Raum dar, in dem sich Liebe ereignet, oder sie sind die Dimensionen, in denen Liebe erfahrbar wird. Für die Welt des Neuen Testamentes ist indessen allein die Agape wichtig, denn sie meint damit die göttliche Liebe, welche in der Liebe des Menschen zum Menschen und zur göttlichen Transzendenz beantwortet wird. In dieser Bezogenheit hebt sich die Agape von der Philia, dem Eros und der Libido ab. Sie tritt am deutlichsten in der Nächstenliebe ins Bewußtsein, sie ist helfende Stellvertretung und nach den Ausführungen des Religionswissenschaftlers Georg Schmid das ganze Geheimnis christlicher Existenz"1. Agape ist in sich weiterhin differenzierbar, und mit ihr bezeichnete man ursprünglich eine sättigende Mahlzeit, die zur Zeit der antiken Hauptmahlzeit stattfand und eine Hilfe für die Armen war. Als ethische Bestimmung gehört sie zur Situationsethik und führt in einer situativen Stellungnahme zu einer Wertung, der das Handeln folgt. Ein solches situationsbedingtes Eingreifen berücksichtigt nicht diejenigen Gewohnheiten und Normen, die dem Vollzug der Situationsethik zuwiderlaufen. Der Samariter fragt nicht, ob der Hilfsbedürftige dem eigenen Volksstamm angehöre, sondern er hilft spontan, ohne Ansehen der Person. Ihm hat der Zufall oder die Situation die Verantwortung auferlegt, der situationsbedingte Engel der Liebe" zu sein. Er ist von derjenigen Liebe ergriffen, von der die Märchen sagen, daß sie versteinerte Menschen wieder zum Leben wecken´kann" 2.

Agape schält sich also in der Situation als Motiv eines Handelns heraus, das dann allerdings auf eine Welt treffen kann, die einem derartigen Handeln oft auf vielfältige Weise gegenübertritt. Priester und Levit, ebenfalls Figuren der vorangestellten Geschichte vom barmherzigen Samariter, spüren diese Feindseligkeit im bösen Geschehen, stellen sich ihr aber nicht, sondern eilen an dem Notleidenden vorbei. Die Agape-Forderung hat sie nicht ergreifen können, und so bleiben sie ihrem Nächsten die Hilfe schuldig. Es wäre indessen in diesem besonderen Fall eine doppelte ethische Anstrengung nötig gewesen: die medizinische Hilfe zur Genesung und die Restitution, d.h. die Vorsorge, daß der Betroffene wieder in den vorigen Stand eingesetzt werden kann. Agape in diesem Sinne ist eine helfende, fördernde und entwickelnde Liebe oder Ethik: sie ist umfassend.
So war es nur folgerichtig, daß die christliche Religion aus diesem Ansatz viele Gestalten der sozialen Hilfe schuf und den Notleidenden in vielen Lagen beistand. Allein diese christliche Liebestätigkeit hatte dennoch einen Mangel. Sie richtete sich einzig auf den Menschen. Der Sorge um die Schöpfung, um Natur und die Gesamtheit des Lebens und der Lebewesen war dennoch eher eine Einstellung vorgelagert: "Und Gott segnete sie (die Menschen) und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht (1.Mose1,28). Auch war das Verhältnis zum anderen Menschen keineswegs stets so liebevoll gedacht, wie die Apokryphen von Tobias und seinem Sohn berichten: 
Wo du kannst, da hilf dem Dürftigen, hast du viel, so gib reichlich, hast du wenig, so gib doch das Wenige mit treuem Herzen." Die Motivierung dazu war: Denn du wirst sammeln einen rechten Lohn in der Not."3 Oft fehlte den Verhältnissen das auf die Gesamtheit des Lebens abzielende Wohlwollen, die strukturelle Güte und die sich einfach gebende Freundlichkeit, welche indessen die buddhistische Metta" auszeichnen.

Dieser Begriff
Metta" entstammt der Palisprache, einem Dialekt, der sich vom Sanskrit ableitet und in dem die kanonischen Texte des Buddhismus abgefaßt sind. In Sanskrit lautet dieser Begriff Maitri". Agape und Metta sind Erfahrungen aus zwei verschiedenen Welten. Daß sie sich heute begegnen, ist eine unvermeidliche Folge modernen Lebens, und sie waren in Europa durch die Buddhismusstudien des 19. Jahrhunderts vorbereitet worden. Im Bereich der Ethik können sie sich nicht nur ergänzen, sondern auch fördern und korrigieren. Metta ist Güte zur Lebenswelt. Sie läßt sich nicht in die Enge von Parteilichkeit einbinden, eher ist sie charakterisiert durch Allgüte, durch Wohlwollen, die nach allen Seiten ausstrahlen. Diesem Ziel korrespondiert ein Ausgangspunkt, der darin besteht, daß man sich selbst ein Wohlwollen zuspricht: Möge es mir wohl ergehen. Möge ich glücklich sein und frei von Leiden." Die Wesen alle - Glück erfüll ihr Herz."4  Mithin auf alle Lebewesen, auf Mensch und Tier, bezieht sich Metta. Indem der Einzelne sich selbst gegenüber Metta ausspricht, ist die psychologische Basis geschaffen, die liebende Freundlichkeit auch anderen Wesen zukommen zu lassen. Eine derartige Metta-Meditation stellt eine Ausweitung und Entgrenzung des Wohlwollens dar und drängt Egozentrik zurück. Metta kann m.E. zu dem Satz des Moralphilosophen Rupert Lay: Biophilie (Liebe zum Leben) ist das ethisch höchste Gut", in Beziehung gesetzt werden. Jedoch auch bei Lay wird diese umfassende ethische Definition sogleich eingeengt, obzwar durch diese Einengung dem personalen Leben nichts weggenommen, sondern ihm eher ein größerer Stellenwert zugemessen wird. Aber das ist gerade in unserem Zusammenhang das Problem. Es zeigt sich, wenn er schreibt: Wir entschieden uns, ethisch-gut genau solche Handlungen zu nennen, die eigenes und fremdes personales Leben eher fördern denn mindern."5 In diesem Biophiliepostulat fehlt eben der Hinweis auf das ganze Leben, auf die ökologische Geschöpflichkeit, auf den Lebensraum, der von Mensch und Tier bewohnt wird. Die Metta-Sutta (Pali), d.i. die Sutra (Sanskrit) von der liebenden Güte, der Gütestrahlung, der Allgüte, entgeht einer solchen Begrenztheit, wenn sie ausführt:

                     
Dies soll tun, wer das Gute tut und Frieden erlangen möchte:
Er sei aufrichtig und bescheiden, / er spreche klar und liebevoll.
Bescheiden und nicht eitel,/ ohne Habsucht und zufrieden.
Von Pflichten unbelastet und genügsam./ Friedlich, ruhig, und weise und heilsam,
im Wesen nicht stolz und fordernd./
Er tue nicht das Geringste,
das dem Wesen mißfiele./
Er wünscht: Möge es allen Wesen wohl ergehen!
Mögen ihre Herzen von Freude erfüllt sein./
Mögen sie alle in Sicherheit und Frieden leben.

Welche Wesen es auch seien./ ob sie schwach sind oder stark,
ohne Ausnahme,
ob mittelgroß, lang oder kurz, groß oder klein,/
ob sie sichtbar sind oder unsichtbar, nah oder fern,

geboren oder noch nicht geboren./ Möge es allen Wesen wohl ergehen!
Kein Wesen soll ein anderes hintergehen;/
kein Wesen verachte ein anderes, wofür auch immer.
Kein Wesen wünsche einem anderen aus Ärger /
oder feindlicher Gesinnung je Kummer und Leid!
Wie eine Mutter mit ihrem Leben ihr Kind, ihr einziges Kind schützt,
so sollen auch wir mit grenzenlosem Herzen alle Lebewesen lieben;/
unsere Güte soll das ganze Universum durchdringen;
sich nach oben zu den Himmeln erstrecken/
und nach unten in die Tiefen,
nach außen, unbehindert überall hin,/
von Haß und Feindseligkeit befreit .
6












Diesem buddhistischen Geist einer durch Vorstellung und Denken, durch Empathie, Mitleiden und Mitfreude gefundenen Alliebe kann Albert Schweizers Gesinnung der Ehrfurcht vor dem Leben"7 beigefügt werden. Seine Kritik galt der Gedankenlosigkeit, der egoistischen Selbstbehauptung und einer Gesellschaft, die des Elends der Tiere nicht ansichtig wurde. Der Anblick eines hinkenden Pferdes, auf das ein Mann mit einem Stecken einschlug, des durstigen Viehs, eng zusammengepfercht im Güterwagen, lastete auf ihm und führte ihn in die existentielle Situation, die ihn zu einer pointierten Ethik des gütigen Verhaltens zu allen Geschöpfen" drängte. Doch auch hörte er den Ruf des Gewissens in Anbetracht von Krankheit und medizinischer Not. Die Ehrfurcht vor dem Leben ließ ihn gleichsam die Synthese von Agape und Metta, von Nächstenliebe und Allgüte finden.

Der Lebenswille des Einzelnen und die moderne Gesellschaft unterbinden häufig die Reflexion einer tief tragischen Entzweiung des Lebens. In der Wahrhaftigkeit stehend, tun sich bei der Betrachtung des oft grausamen natürlichen Lebenswillens Konflikte auf, die jedoch im Geiste von Agape und Metta bearbeitet und in gewisser Weise auch entspannt werden können. Beide sind in ihrer Ergänzungsnotwendigkeit aufeinander angewiesen. Allgüte braucht Nächstenliebe und umgekehrt. Agape kann sich zwar zu einem naiven Anthropozentrismus verengen, so verengen, daß nur noch der Mensch als das Maß aller Dinge gilt. Angeschirrt aber an das Wesen des umfassenden Wohlwollens, bewirken sie jedoch beide jene Einstellung, die der englische Erzähler Edward Morgan Forster in dem Rat zusammenfaßt:
Seid nur verbunden." Doch erst im Erleben werden diese zwei Erscheinungen des Religiösen erfahrbar. Die lehrmäßige Wahrheit kann auch hier zur Erstarrung führen, so daß Allgüte die Bodenhaftung verliert, sich in der Weisheit des Gleichmuts von der Wahrnehmung situativer Nöte entfernt. Agape hinwiederum vermag sich über die Situation zu erheben und nach Georg Schmid in heutiger Zeit, einer Zeit der umfassenden Bedrohung allen Lebens", mit prinzipiellen Forderungen (Tierrechte ins Grundgesetz, was inzwischen geschehen ist) bei denjenigen Wesen zu sein, die das Lebensrecht zu verlieren" drohen. Es wäre gut, wenn Ost und West in diesem Sinne voneinander Kenntnis nähmen und lernen könnten.
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1 Georg Schmid, Zwischen Wahn und Sinn, halten Religionen, was sie versprechen
2 Anselm Grün, 50 Engel für das Jahr
3 Gerhard Uhlhorn, Die christliche Liebestätigkeit
4 Georg Schmid
5 Rupert Lay, Ketzer-Dogmen-Denkverbote,  Christ sein heute
6 Sharon Salzberg, Geboren im Sein, Die Kraft der Metta-Meditation
7 Albert Schweizer, Kultur und Ethik

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